Vergabe der Irma-Rosenberg-Preise 2020

Die Irma Rosenberg-Preise werden alle zwei Jahre für hervorragende wissenschaftliche Leistungen im Bereich der Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, der Kulturabteilung der Stadt Wien und dem Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft vergeben.

Der Hauptpreis wird von der Stadt Wien getragen, die beiden Förderpreise werden je zur Hälfte vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung und der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte getragen.

Sie dienen der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Irma Rosenberg hat sich seit dem Beginn der 1930er Jahre in der Tschechoslowakei aktiv gegen Faschismus und Rassismus eingesetzt und musste 1939 aufgrund der Verfolgung durch das NS-Regime wegen ihrer politischen Aktivitäten sowie wegen ihrer jüdischen Herkunft emigrieren. Sie hat diesen Preis zur Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus gestiftet. Ausgezeichnet werden Arbeiten, in deren Zentrum die Geschichte des Nationalsozialismus im Kontext der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gewalt, Diktaturen und Genoziden steht.

Jurymitglieder:

Univ.-Doz. Brigitte Bailer (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien)
Dr. Ingrid Boehler (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck)
Ao. Univ.-Prof. Johanna Gehmacher  (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien)
Ao. Univ.-Prof. Christian Fleck (Institut für Soziologie, Universität Graz)
Univ.Prof. Bertrand Perz (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien)
Univ.Prof.Oliver Rathkolb (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien)
Univ.Prof. Margit Reiter (Institut für Geschichte, Universität Salzburg)
Assoz.-Prof. Regina Tumser-Wöhs (Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, JKU Linz)
Univ.-Prof. Kerstin von Lingen (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien)

Mit den beiden Förderpreisen werden in diesem Jahr Anna Veronica Pobbe und Andreas Kranebitter ausgezeichnet. Den Hauptpreis erhält Kerstin Schwenke.

 

 

 

Anna Veronica Pobbe

Dissertation: Hans Biebow after 1941: the Wehrmacht, the Endlösung and the End of Litzmannstadt Ghetto

The Litzmannstadt Ghetto (Łódź) was the longest existing ghetto created by the Nazis during the Second World War. Established already in December 1939, the Nazis did not liquidate it until the summer of 1944. The historiographic debate regarding this unusual longevity is still very open; despite recent works by Andrea Löw (Juden im Getto Litzmannstadt), Peter Klein (Die Gettoverwaltung Litzmannstadt) or Gordon Horowitz (Ghettostadt), that have contributed to obtain a better understanding on the matter. In order to provide a clear vision on this subject, Hans Biebow, who was called by the Nazi authorities to manage the ghetto, is a central point of this dissertation. Biebow was born in Bremen in 1902 and became a member of the NSDAP in 1937, after he gained wealth in trade business. During the war he proved himself to be a pragmatic man with great business acumen, especially in exploiting resources from the Jews. In Mai 1940 he was appointed as “Amtsleiter” of the “Gettoverwaltung”. When the ghetto became an archipelago of “resorts” with more that 100 small and medium-sized factories in 1941, he independently managed deportations from and to Litzmannstadt – despite the fact that he was a civilian. Additionally, he was put in charge (by “Reichsstatthalter” Arthur Greiser) of the management of the bank account, which were used to collect stolen goods from the Jews in the ghetto. Hans Biebow’s biography is strictly connected with the collusion of private firms, with the exploitation of Jewish manpower, and the competition between military departments starting from 1943. Biebow, who had seemed to be a simple social climber, happened to change into a trust-worthy man for all the agencies (both private and public) involved with the deportation business. He was also able to take advantage of his low profile, which enabled him to move freely between agencies, building alliances and most of the times presenting himself as an expert regarding the redevelopment of the ghettos. His work as “Amtsleiter” was noticed even outside the “Kreis of Litzmannstadt”, as high-ranking Nazis like Heydrich and Himmler demonstrated their interest in his work.  From the perspective of its administrator, the history of Litzmannstadt ghetto is a history about myths, like the ones used inside Greiser’s propaganda or during the self-representation of the ghetto administration as it has been recently demonstrated. But most of all it is a history about power, which was mainly obtained in the field, taking part in the “Aktionen” and expressed rarely on a hierarchical level.

 

Anna Veronica Pobbe was born in Vicenza (Italy), 1991. She received her PhD in May 2020 after a four-year long project at University of Trento, based on a study about Hans Biebow, Amtsleiter of Litzmannstadt Ghetto during the war. Her project has also benefited of some external fonding thanks to some fellowships granted by Yad Vashem (2017), EHRI (2018) and IfZ in Munich (2019). In Italy her PhD-thesis was awarded the Ivano Tognarini Prize 2020. She is currently working on some publications related to the economic exploitation driven by the Nazis against the Jewish population in the occupied territories.

Andreas Kranebitter

Dissertation: „Verlängerter Arm der SS“ oder „vergessene Opfergruppe“? Ein Beitrag zu einer Soziologie der Konzentrationslager am Beispiel der „Berufsverbrecher“ des KZ Mauthausen

Die Dissertation fokussiert auf eine Gruppe von Deportierten nationalsozialistischer Konzentrationslager, die von der SS als „Berufsverbrecher“ etikettiert worden waren. Obwohl diese Gruppe Thema kulturindustrieller Darstellungen und revisionistischer Diskurse ist, wurde wissenschaftlich bisher wenig zu ihr geforscht. In der Dissertation wird eine Kollektivbiographie von 881 österreichischen „Berufsverbrechern“ geschrieben, die ins KZ Mauthausen deportiert wurden. Sie integriert verschiedene historische Quellen und methodologische Ansätze, von multivariaten statischen Analysen bis zu hermeneutischen Interpretationsverfahren eigenen Interviewmaterials mit Angehörigen, und verwendet dafür Konzepte aus der kritischen Kriminalsoziologie und der Soziologie der Gewalt. Die Ergebnisse werden in einem theoretischen Rahmen interpretiert, der die Konzentrationslager als Manifestationen eines permanenten Ausnahmezustandes konzeptualisiert. Soziales Handeln unter den Extrembedingungen des Konzentrationslagers war, so die zentrale Argumentation, eine Frage der Situation und Position innerhalb der „Häftlingsgesellschaft“. Für die erweiterten Handlungsoptionen innerhalb der Grauzone der Lager, die mit der Gruppe der „Berufsverbrecher“ oft verbunden waren, lässt sich kaum ein Zusammenhang mit früheren Erfahrungen der Delinquenz oder dem zugewiesenen Etikett des „Berufsverbrechers“ feststellen.

Andreas Kranebitter hat an der Universität Wien Politikwissenschaft und Soziologie studiert. Er war Universitätsassistent am Institut für Soziologie der Universität Wien und Leiter der Forschungsstelle der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, derzeit leitet er das Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich an der Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in soziologischer Theorie, Soziologiegeschichte, Soziologie der Gewalt und der NS-Forschung. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen Zahlen als Zeugen. Soziologische Analysen zur Häftlingsgesellschaft des KZ Mauthausen (2015) und Die Soziologie und der Nationalsozialismus in Österreich (2019, hg. mit Christoph Reinprecht).

Kerstin Schwenke

Publikation: Öffentlichkeit und Inszenierung - Besuche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern zwischen 1933 und 1945

Anders als nach 1945 oft dargestellt, waren die nationalsozialistischen Konzentrationslager keine hermetisch von der Außenwelt abgeschirmten Orte. Immer wieder wollte oder musste die SS die Tore für Außenstehende öffnen. Bei den Besuchergruppen ist eine große Bandbreite an Akteuren auszumachen, darunter in- und ausländische Journalisten, NS- und SS-Größen, Künstlerinnen und Künstler, Wirtschaftsvertreter, internationale Hilfsorganisationen, Angehörige der Häftlinge und Vertreter ideologisch verwandter, aber auch demokratischer Staaten.

Die Studie von Kerstin Schwenke gibt einen Überblick über die verschiedenen Besuchergruppen, die im Blick der Öffentlichkeit stehenden Lager und die Motive der SS sowie der Besucherinnen und Besucher. Auf der Basis von Aufzeichnungen ehemaliger Häftlinge, zeitgenössischen Zeitungsartikeln und Berichten der Besuchergruppen, Akten der SS sowie Beständen der juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen werden die historischen Geschehnisse nachgezeichnet und analysiert. Die Untersuchung richtet dabei ihren Schwerpunkt auf Visiten in den Lagern, die vor Kriegsbeginn entstanden sind, bezieht aber auch Beispiele aus Auschwitz mit ein. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Präsentationsstrategien der SS und der Wahrnehmung der Orte durch diejenigen, die nur eine Momentaufnahme des Lebens im Konzentrationslager zu sehen bekamen. Die Besuche stellten immer eine Inszenierung dar, die je nach dem Hintergrund der Gäste unterschiedliche Teilaspekte der Lagerrealität zeigte.

 

Kerstin Schwenke studierte Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften in München und Salamanca. Nach dem Referendariat für das Lehramt Gymnasium und beruflichen Stationen als pädagogische Mitarbeiterin an der KZ-Gedenkstätte Dachau und am NS-Dokumentationszentrum München, ist sie seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin. Von 2013 bis 2016 war sie Stipendiatin der Heinrich Böll Stiftung und im Jahr 2014 Fellow am Mandel Center for Advanced Holocaust Studies am United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. Betreut durch Professor Ferdinand Kramer (LMU München) und Professor Nikolaus Wachsmann (Birkbeck College, University of London) schloss sie 2018 ihr Promotionsprojekt „Besuche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern“ mit summa cum laude ab. Sie ist Autorin der Monographien „Öffentlichkeit und Inszenierung. Besuche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern zwischen 1933 und 1945“ (2020) und „Dachauer Gedenkorte zwischen Vergessen und Erinnern – Die Massengräber am Leitenberg und der ehemalige SS-Schießplatz bei Hebertshausen nach 1945“ (2012) sowie mehrerer Aufsätze.